Ein Herbsttag in Prag
Prag im Herbst - Harmonie & Kontraste
Nächster Tag – Dienstag. Irgendwann ist bekanntlich immer das erste Mal, und dieses ist die erste Fahrt mit dem Flixbus. Um kurz vor 9 Uhr ist Abfahrt nach Prag. Eigentlich wie Fliegen oder Zugfahren – Ticketkontrolle, Einsteigen und auf die Ankunft warten. Der Busfahrer macht einen zuverlässigen Eindruck, soweit man das von außen beurteilen kann. Als es hinter Dresden auf die Autobahn geht, schaue ich rechts aus dem Fenster und sehe von oben einen sehr klein wirkenden Ford Focus, der nach rechts abdriftet. Schnell begreife ich, dass unser Bus den Focus anscheinend abdrängt; dieser kam von einer Auffahrt und hatte keinen Platz. Panisch wirkend vollzieht der Focus einige Manöver, um keinen Unfall zu riskieren. Im Bereich der Grenze geht es etwas hoch, und wir fahren durch den Nebel. Die Atmosphäre ist angenehm – zumindest draußen. Der Bus selbst ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Es ist warm und die Luft katastrophal. Aber ehe ich es mich versehe, rollt das Gefährt in Prag ein, und ich kann aussteigen. Am internationalen Busbahnhof etwas nordöstlich vom Hauptbahnhof angekommen, scheint die Sonne, und ich bin guter Dinge für meinen allerersten Besuch in der tschechischen Hauptstadt.
Hinab in die Metro-Station, ein Tagesticket gekauft und in Richtung Osten der Stadt. Bereits in der Metro kommt der Ost-Flair zum Vorschein. Rustikaler Beton und für den Deutschen ungewöhnlich lange Rolltreppenschächte, die nur von einigen Neonröhren an der Decke illuminiert werden. Die Rolltreppen selbst fahren etwas zügiger als in Deutschland und ruckeln merklich. Es macht mehr Spaß, auf ihnen zu fahren – der Gleichgewichtssinn wird spürbar gefordert. Mein erstes Ziel ist der große Olšany-Friedhof. Schon von der Straße aus kann man die alten Grabsteine und kleinen Mausoleen erkennen. Überwiegend aus dem 19. Jahrhundert und dementsprechend überwuchert - teils schon gebrochen oder zerfallen. Eine spannende Umgebung. Ein Ort der Ruhe mitten in einer Millionenstadt. Ewige Ruhe, wenn man es so will. Dennoch voll mit Leben. Die Sonne sticht durch die Herbstblätter der Bäume, und mehrere Eichhörnchen sammeln Nüsse zwischen Gräbern und Bäumen. Es wirkt irgendwie harmonisch.
Die Gräber selbst sind in diesem Teil des Friedhofes zu gut drei Vierteln mit deutscher Beschriftung. Bei dem Alter nur nachvollziehbar. Dennoch interessant, den einen oder anderen zu lesen. Berufe, Tätigkeiten und Ehrungen von vor 200 Jahren. Die ganz unterschiedlichen Gestaltungen regen auch zum Nachdenken an, wie man selbst denn irgendwann bestattet oder in Erinnerung gehalten werden will. Ein schlichtes Grab oder doch eher eines der pompös wirkenden kleinen Mausoleen? Ob das denn wirklich wichtig ist? Und wenn nein, was denn stattdessen? Ich löse mich aus dem Strudel der philosophischen Fragen und verlasse den Friedhof zu einer großen Straße hin, die scheinbar eine einzige Baustelle ist. Baulärm, Verkehr und die Suche nach dem Weg zum nächsten Ziel holen mich zurück ins Hier und Jetzt.
Per Fußweg erreiche ich den alten Güterbahnhof in Žižkov. Die ehemaligen Gebäude auf den Laderampen sind teils verschlossen und teils als Lager in Betrieb. Vereinzelt haben sich dort aber auch Geschäfte niedergelassen. Ein großer asiatischer Markt ist der erste, an dem ich vorbeikomme, als ich das Gebäude längs entlanggehe. Die Menschen kaufen dort ein, als wäre es das Normalste der Welt, während einige Meter weiter ein Gebäude praktisch verfällt. Ganz anders als große Gewerbegebiete, wo ein riesiger Supermarkt mit Parkplatz neben dem anderen steht. Um die Spitze des U-förmigen Bahnhofsgebäudes herumgehend, öffnet sich der Blick auf den inneren Bereich. Die großen Metallkonstruktionen, Bahnsteige und Industrieanlagen bieten ein Fenster in die Vergangenheit. Sicherlich als „Lost Place“ einzustufen. Die Aussicht darauf, das Gelände etwas erkunden zu können, hat mich schließlich auch angezogen. Doch ein neuer Metallzaun mit Stacheldraht, Kameras und diversen Warnschildern verwehrt mir den Einlass. Beeindruckend sieht es trotzdem aus. Das erste von zwei Antiquariaten in den Bahnhofsgebäuden ist gigantisch. Eine riesige Lagerhalle beherbergt unzählige Sessel, Schränke und weitere alte Möbel. Ein paar schöne sind schon dabei. Teils macht es den Eindruck von Ostblock-Haushaltsauflösungen. Der zweite Laden, der mehr einem Museumsarchiv gleicht, erfüllt meine stillen Hoffnungen. Die Tore zum Innenbereich des Bahnhofs sind offen und geben ganz ohne Zäune den Blick auf die Verladezonen und so weiter frei. Neugierig trete ich auf den Bahnsteig hinaus und sehe nun wenige Meter neben mir einen rauchenden Herrn sitzen, der mir schon von weitem auffiel, als ich noch hinter dem Zaun stand. Dort hielt ich ihn noch für einen Sicherheitsbeamten; er stellt sich aber als Restaurator im Antiquariat heraus, der dort nur seine Pause verbringt. Nach einem kurzen Plausch entdeckt er meine Kamera und gibt mir zu verstehen, dass ich besser nicht fotografieren sollte – wegen der ganzen Überwachungskameras. Kein Problem, sage ich ihm und grinse in mich hinein. Die Bilder habe ich schon durch das offene Tor gemacht, bevor ich herausgetreten bin. Wieder draußen scheint die Sonne immer noch, und ich mache mich mit der Straßenbahn auf den Weg zum Petřín. Durch die Innenstadt und über die Moldau. Der Petřín ist ein Hügel bzw. eine Erhebung im Westen der Stadt unweit des Hradschin. Die historische Seilbahn aus dem 19. Jahrhundert ist leider wegen Bauarbeiten nicht in Betrieb, und so beginne ich den Aufstieg zu Fuß. Ein wunderschöner Park mit unzähligen Wegen, Gabelungen und Kreuzungen. Egal welche Abzweigungen man nimmt, man kann immer noch oben ankommen. Hat etwas von einem Labyrinth. 150 Höhenmeter später lege ich eine kleine Pause mit Blick auf Prag ein. Die Stadt erstreckt sich fast so weit das Auge reicht, und ihr einheitliches Stadtbild von oben gefällt mir. Etwa 30 Minuten später kommt man (beim richtigen Weg) am Strahov-Stadion an. Vor gut 80–100 Jahren bot es noch Platz für bis zu 200.000 Zuschauer. Die Tribünen selbst sind eher niedrig, aber die Fläche ist enorm. Kaum vorzustellen, dass hier mal so viele Menschen waren. In jüngerer Vergangenheit spielten hier die Rolling Stones oder Pink-Floyd-Konzerte. Offiziell ist auch dieses Bauwerk nicht öffentlich zugänglich. Sich mal umzuschauen, kann aber wohl schwer verboten sein, und eine offene Tür lockt mich an. Nach ein paar stadiontypischen Treppen stehe ich auf der Haupttribüne. Ganz allein bin ich nicht. Eine junge Frau, etwa in meinem Alter, macht irgendwelche Hausaufgaben an ihrem iPad. Vermutlich die Freundin von einem der Jungs, die gerade unten Training haben. Dann wären da noch zwei Herren, die ich als Scout und Spielervater einordne. Ob da gerade das nächste große Talent aus der tschechischen Liga entdeckt wird?
Genug vom Stadion – es ist zwar groß, aber abgesehen davon nicht weiter spektakulär. Die Zeit verstreicht, und die besten Dinge warten noch. Ich verpasse die historische Straßenbahn leider knapp. Nun gut, dann laufe ich eben rüber zum Hradschin. Der Burgberg ist schon aus der Ferne gut zu sehen. Der große Veitsdom ist ein gotisches Meisterwerk – ganz nach meinem Geschmack. Es wird auf einen Schlag touristisch, und Reisegruppen drängen sich an dutzende Schulklassen. Strategische Bewegung ist gefordert, und ich schaffe es gerade so, vor einer Schulklasse zu bleiben, um ein paar Fotos mit recht wenig Menschen darauf zu knipsen. Der Eintritt für den Veitsdom ist offenbar doch nicht kostenlos, und ich muss in den sauren Apfel beißen, mir ein Ticket für so gut wie alles auf dem Hradschin zu kaufen. Der Dom selbst ist wunderschön von innen und bietet einige großartige sakrale Gegenstände. Leider leidet das Erlebnis unter der strikten Vorgabe, wo man langzulaufen hat, und der permanenten Einbuchtung zwischen diversen Reisegruppen. Nichtsdestotrotz spannend, an einer der wichtigsten Wirkungsstäte Karls IV. zu sein. Der von ihm erbaute Veitsdom und die Gebäude drumherum, in denen der Überlieferung nach die maiestas carolina verbrannte. Der alte Königspalast ist ebenfalls ansprechend. Inzwischen setzt der angekündigte Regen ein. Die Tropfen auf der Kamera und die Touristenmassen schlagen etwas auf das Gemüt. Den zwischenzeitlichen Rest gibt mir der Besuch der St.-Georgs-Basilika. Eine fast 1.000 Jahre alte Basilika mit schöner Bemalung, in der ich mich auf einer der Bänke niederlasse und mir einen ruhigen Moment gönnen möchte. Die (zumindest innere) Stille währt nicht lang, und eine Gruppe Rentner weist mich unfreundlich darauf hin, dass doch bitte alle Mitglieder bei dem kurzen Stopp ihrer Führung sitzen möchten. Für eine Diskussion fehlen mir Lust und Kraft, und ich lasse das Diktat der Touristenführerin gewähren. Die Situation erinnert mich an eine in Griechenland, wo sich eine Führerin über unsere angeblich zu hohe Lautstärke mit den Worten „I’m giving a tour right now!“ beschwerte. Die Erinnerung wirft mir aber wieder ein Lächeln aufs Gesicht, und ich gehe wohlwollend raus in den Regen. Was soll’s – sollen sie sich eben alle setzen.
Das berühmte Goldene Gässchen ist ebenfalls Bestandteil meines unfreiwillig erworbenen Tickets, also nutze ich auch das aus. Eine an sich kleine und niedliche Gasse mit einigen Läden – allerdings unglaublich voll. Mit Eintritt und der Überfüllung an Touristen kann man sich das definitiv sparen. Besonders fällt mir hier ein Phänomen auf, das schon im Veitsdom zu beobachten war. Alle paar Meter hat man die Action-Cam oder das Handy von jemandem im Gesicht. Kamerascheu bin ich nicht wirklich, aber permanent fremde Apparate dicht vor und um sich zu haben, muss ja nicht sein. Was hat es auch mit diesem Drang des ständigen Filmens auf sich? Das mag ironisch klingen, sagt es doch jemand, der selbst gern fotografiert oder auch mal filmt. Doch liegen hier nicht nur qualitative Unterschiede, sondern auch solche in der Intention vor. Bewusst schöne Dinge, Anblicke und Kompositionen einzufangen, ist das eine – aber einfach nur um des Filmens willen draufhalten, weil andere es auch machen, das erschließt sich mir nicht wirklich. Und sonderlich geübt im Umgang mit Kameras sehen die meisten Menschen dort auch nicht aus; es geht also vermutlich nicht um qualitative Travel-Vlogs für YouTube. Wie dem auch sei, ich befreie mich aus der Touristenhölle und gehe in den Wallgarten im Schatten der Mauern. Es regnet nicht mehr, und ich komme mit einem Austauschstudenten aus Mexiko ins Gespräch. Ein netter Kerl. Wir fotografieren uns gegenseitig und teilen unsere Eindrücke von Prag. Kurz darauf fragt mich eine junge Pakistanerin aus England, ob ich ein „professional photographer“ sei. Wahrheitsgemäß antworte ich lächelnd mit einem „sometimes“. Während wir durch den Garten zum Matthiastor zurücklaufen, führen wir eine nette Unterhaltung, und während ich Rede und Antwort zum Studium und dem Ursprung des Fotografierens stehe, erfahre ich, dass sie alleine aus Pakistan nach England gezogen ist, um als Apothekerin zu arbeiten. Auch mit ihr kann ich einen ersten Eindruck von Prag austauschen. Verwunderung ernte ich für die Tatsache, dass ich nur einen Tag in Prag bin, während sie eine Europareise macht. Wie der Zufall es will, bekomme ich wenige Tage später Nachricht, dass ihr geplanter Louvre-Besuch wegen des Diebstahls verschoben werden muss. Die Wege trennen sich, denn ich tue mir kein zweites Mal die Menschenmassen an und will noch die Innenstadt sehen.
Das vom erneuten Regen rutschige Kopfsteinpflaster hinunter zur Karlsbrücke mahnt zu vorsichtigen Schritten. Am Kleinseitner Ring setze ich mich hungrig und auf der Flucht vor dem Regen in ein uriges tschechisches Restaurant. Nach kurzer strategischer Beratung mit der Kellnerin fällt die Wahl auf das Gulasch und ein Pils. Ein bisschen lokale Küche muss schließlich sein. Das Gulasch schmeckt, etwas größer könnte die Portion aber sein. Parallel läuft ein Fußballspiel, das den Barkeeper in seinen Bann zieht. In gemütlicher Atmosphäre schaue ich die ersten Fotos von heute durch, bevor ich bei einbrechender Dunkelheit zur Karlsbrücke aufbreche. Der Regen ist inzwischen stärker, und arrogant wie ich morgens war, bin ich ohne Schirm los. Aber es lässt sich aushalten. Einzig um die Kamera mache ich mir Sorgen. Die Karlsbrücke ist durchaus schön, aber ich verfalle nicht in den Rausch, den man erwartet, wenn man dem einen oder anderen zuhört, der einen Besuch zum Nonplusultra erklärt. Besonders fotogen oder interessant sind aber immer wieder die älteren Straßenbahnmodelle, die in der gesamten Stadt unterwegs sind.
Über den Altstädter Ring und die astronomische Uhr bewege ich mich wieder Richtung Osten. Ein Verpflegungsstopp im Einkaufszentrum und eine kurze Straßenbahnfahrt später bin ich zurück in der Nähe des Busbahnhofs. Nach kurzen Orientierungsschwierigkeiten, wegen derer ich mich auf dem Parkplatz wiederfand, bin ich am Bus, der mich zielsicher zurück nach Dresden bringt. Selbiger ist recht leer und im Vergleich zur Hinfahrt sehr angenehm. Vor mir unterhält sich ein Student aus Georgien mit einem anderen Deutschen über Zentraleuropa und das Leben hier. Neben mir bewacht eine Ukrainerin, bewaffnet mit diversen Starbucks-Produkten und Unterhaltungselektronik, ihre drei kleinen Kinder. Am Grenzübergang betreten zwei Beamte der Bundespolizei den Bus und verlangen einen Blick auf die Ausweisdokumente. Der Fahrer scheint die 15 Minuten Unterbrechung wieder aufholen zu wollen, und der Bus legt sich abenteuerlich in die ein oder andere Kurve.
Zurück in Dresden ist es trocken von oben, und ich bin zwar erschöpft, aber frohen Gemüts. Es war ein guter Tag in einer neuen Stadt mit netten Begegnungen und spannenden Eindrücken.