Bonn und zurück - 400km an einem Tag

Auf der Suche nach den eigenen Grenzen - 400km in 21 Stunden

400 Kilometer mit dem Fahrrad. An einem Tag. Naja technisch gesehen an zwei, weil die 400 erst um 02:00 Uhr morgens auf dem Tacho stand. Aber in unter 24 Stunden und ohne Nachtruhe.

Zwischen der Suche nach den eigenen Grenzen, mutmaßlichem Größenwahn und einem Besuch bei Oma und Opa war die Mission also klar: Nach Bonn und wieder zurück.

Dieses von meinem nahen Umfeld als „verrückt“ bezeichnete Unterfangen war Produkt mehrerer Faktoren: Die 200km bis zu meinen Großeltern wollte ich ohnehin dieses Jahr noch fahren. Nach dem ersten Mal 300km an einem Tag war klar: da könnte noch etwas mehr gehen. Eine Kaffeefahrt waren die 320km vor einigen Wochen sicherlich nicht gewesen, aber die Grenze war noch nicht erreicht. So sagte zumindest die innere Stimme. Wenn die Grenze der momentanen Leistungsfähigkeit nicht bei 300 lag, dann ja vielleicht bei 400.

Außerdem musste nach der Bordeaux-Reise standesgemäß noch ein kleines Mitbringsel für meine Großeltern überbracht werden. Nach kurzer Anmeldung in der alten Bundeshauptstadt stand der Termin fest. Mittwoch – klassischer Tag für 400km Radfahren. Ebenso kurzfristig hat sich schlagkräftige Begleitung für einen Teil des Hin- und den gesamten Rückweg angekündigt.

Es wurde also ernst. Am Vorabend noch eifrig ein paar Kleinigkeiten gepackt und pünktlich los. Start der Aufzeichnung am Radcomputer: 04:58 Uhr.

Der Jahreszeit entsprechend sind die Nächte wieder kühler und eingepackt in gefüttertes Trikot und Beinlinge ging es Richtung Mainz. Körper und Geist wurden langsam wach, je öfter die Kurbel sich drehte und durch die heimische Gegend verliefen die ersten 40km recht unspektakulär. Bei Kilometer 65 trennten sich die Wege der beiden frühen Vögel, nachdem gemeinsam per Fähre nach Bingen übergesetzt wurde.

Inzwischen war es hell und ein Bäcker war Quell des Frühstücks. Neben „Granatsplittern“ (wohl eine Art Nussecke), gab es den sogenannten „Gute-Laune-Snack“. Allein der Name überzeugte mich und das Brötchen, welches mit einem gigantischen Rührei belegt war, füllte den Bauch. Langes Trikot und Beinlinge wurden in der vom Fachmann als „Arschrakete“ betitelten Satteltasche verstaut und es ging gen Koblenz. Der Rückenwind wurde bei der ein oder anderen Schleife des Rheins zum Gegenwind und bot so schon einen Vorgeschmack auf das, was mich auf den 200km Heimweg später erwartet. Aber das waren Gedanken für nachher. Jetzt hieß es erstmal bis Koblenz, kleine Pause machen, um Getränke und Gummibärchen aufzufüllen und dann weiter. Die Strecke aus Koblenz raus entpuppte sich als erste mentale Prüfung. Stakkatoartige Kreuzungen mit Ampeln machten die Kilometer 140-150 recht zäh. Mit danach wieder steigender Durchschnittsgeschwindigkeit, etwas Sonnenschein und guter Musik ging es zurück am Rheinufer ordentlich voran. Bei 37km/h ging es mit moderatem Puls schnurstracks Richtung Mittagessen bei Oma und Opa.

Doch vorher noch den Hausberg hoch. 120 Höhenmeter bei teils 17% waren zwar recht schnell vorbei, aber auch nach fast genau 200 Kilometern nicht mehr so locker wie 8 Stunden zuvor. Nach zahllosen Gummibärchen, Cola und dem angesprochenen „Gute-Laune-Snack“ war der warme und sehr leckere Eintopf eine Wohltat. Das kleine Geschenk aus Bordeaux  - eine Wein-Konfitüre – wurde überreicht und nach kurzer, aber dennoch schöner Zeit ging es notgedrungen wieder aufs Rad. Die ersten Umdrehungen der Pedale machten sich in den Knien bemerkbar und es war zu spüren, dass schon ein paar Meter in den Beinen stecken. 

Nach kurzer Wartezeit auf dem Lidl-Parkplatz rollte meine Begleitung für den Rückweg an, die mit dem Zug von Darmstadt nach Bonn gefahren war. So hatten wir insgesamt zwei frische und zwei nicht mehr ganz so frische Beine. Es erfolgte eine kurze Lagebesprechung und weiteres Koffein fand den Weg in meinen Körper. Gestärkt vom Mittagessen und der einstündigen Pause zuvor legten wir die ersten 300 Meter zurück. Das erreichte Zwischenziel war ein Fahrradladen, der von außen mehr als nur geschlossen aussah. Erleichtert stellte ich fest, dass die Tür aufging und den Blick auf einen eher etwas lockerer organisierten Laden freigab. Der mutmaßliche Ladenbetreiber meldete sich auf ein lautes „Hallo?“ hin und konnte das benötigte Gut bereitstellen: Eine Luftpumpe. Beim Aufpumpen meines Hinterreifens wurde mein Verdacht bestätigt. Der Schlauch verliert etwas Luft. Mit etwa 6 Bar Reifendruck losgefahren waren grade noch 4 übrig.

Fertig gepumpt, währenddessen noch vom waghalsigen Unterfangen erzählt, und gebührend für das Leihen der Pumpe bedankt und es ging nun richtig los. Der Radweg direkt am Rhein wechselte zwischen besten Bedingungen und aufgerissenen Pflastersteinen. Besonders beim rumpeligen Ritt über das Pflaster waren voller Reifendruck und schon 8 Stunden auf dem Sattel Sitzen nicht so bequem wie zuletzt die Sitze in der 1. Klasse des TGV. Nichtsdestotrotz hieß es „Nicht kleckern sondern klotzen“ und bei strammem Gegenwind mit bis zu 42km/h Böen fuhren wir mit solidem Tempo bis Koblenz durch. Die Führungen vorne Wind fielen etwas kürzer aus, da inzwischen 220km langsam Tribut forderten. Meine Beine waren nicht mehr ganz so frisch wie die meiner Begleitung. Dennoch teilten wir uns die Arbeit gut ein und legten bei Kilometer 260 im von der Hinfahrt bekannten Netto eine längere Pause ein. Besagter Netto ist nicht unbedingt im wohlhabendsten Viertel situiert und zwischen durchaus skurrilen Gestalten fanden mehrere Liter Eistee, Waffeln, und ein Hähnchenschenkel samt Pommes den Weg in Bäuche und Trinkflaschen. Ein kleiner Umweg über eine Fahrradstation in der Innenstadt war nötig, um den Hinterreifen das zweite Mal auf vernünftigen Druck aufzupumpen.

Zurück im Sattel machte die langsam untergehende Sonne gute Laune und mit dem Erreichen von Kilometer 300 wusste ich so langsam: Die 400 wird heute vollgemacht. Inzwischen 11 Stunden reine Fahrtzeit offenbarten neben kleineren körperlichen Wehwehchen auch geistige Folgen. Wir lachten über die komischsten Dinge und der Versuch, sich die aktuelle Lage zu vergegenwärtigen endete mit noch mehr Lachen.

Wir rollten mit gutem Tempo nun nicht mehr auf dem im Hellen schönen Radweg, sondern auf der noch kaum befahrenen Landstraße, wo wir deutlich besser vorankamen. Angekommen in Bingen und damit schon stolze 330km in den Beinen wurde die Tankstelle geplündert und sich wärmer angezogen. 500 Meter weiter war für Radfahrer kaum ein Durchkommen vor lauter Umleitungen. Wer konnte denn ahnen, dass genau an diesem unscheinbaren Mittwoch das Feuerwerk vom Winzerfest ansteht? Das Glück war uns hold und just als wir vorbei kamen, startete die durchaus schöne Pyro-Show. Abseits vom Trubel, auf einem Parkplatz neben den Gleisen genossen wir also in stiller Zweisamkeit die bunten Lichter am Himmel. Nach dem Ende wollten weitere 15 Minuten überbrückt werden, bis die Feuerwehr den Weg wieder für Passanten freigab.

Jetzt endlich wieder unterwegs, wo das Ende langsam in Sicht war folgte der nächste Tiefschlag. Völlig ohne vorherige Anzeichen trat ich plötzlich ins Nichts und rollte noch ein paar Meter bergauf, während die Kette auf der Straße liegen blieb. Die Diagnose stand schnell fest: Kettenriss. Ein Ersatz-Kettenschloss oder einen neuen Stift zum Nieten hatte ich natürlich nicht dabei. Es blieb also nur eins übrig: Finger einsauen und mehr schlecht als recht wieder zusammennieten mit den bestehenden Kettengliedern. Getreu der Herstelleranweisungen war das weiß Gott nicht, aber das ist eben Leben in der Lage. Guter Pfusch ist keine schlechte Arbeit.

Ab da fuhr die Angst im Hinterkopf mit. Nach jedem Abbremsen vor Ampeln oder Kurven musste im Schneckentempo beschleunigt werden, um die Notlösung nicht zu sehr zu strapazieren. Das nagte nicht nur am Tempo, sondern auch an der Stimmung. Nur langsam kehrte mein Vertrauen in die Kette zurück und so tastete ich mich Stück für Stück an den gewohnten Fahrstil heran. Die Hügel zwischen Bingen und Mainz kamen also zu denkbar schlechtem Zeitpunkt. All diese Faktoren sorgten für ein ordentliches Stimmungstief. Nicht einmal die Aufmunterungsversuche meines treuen Begleiters konnten kurzfristig helfen.

Erfahrungsgemäß besteht zwischen der Versorgungslage mit Kohlenhydraten und der Laune auf langen Fahrten ein direkter Zusammenhang und deswegen steuerte ich mit einem 160g Beutel Haribo Wassermelonen gegen. Die Melonen oder das geistige Zusammenreißen wirkten Wunder und ehe wir es uns versahen, rauschten wir guten Gemüts durch das dunkle Mainz. Über die Eisenbahnbrücke zurück auf die richtige Rheinseite und es waren nur noch knapp 35 Kilometer übrig. Eine letzte Pepsi von irgendeiner Tankstelle und der Endspurt wurde angetreten. Über Land- und Bundesstraßen nahmen wir direkten Kurs auf Darmstadt. Ein schneller LKW, der mit höchstens 30cm Abstand an uns beiden (tatsächlich gut beleuchteten) Radfahrern um 01:00 Uhr nachts vorbeibrauste, brachte uns kurz aus dem Konzept. Froh darüber, noch am Leben zu sein ging es noch wenige Kilometer weiter, ehe sich die Wege trennten. Die letzten 15 waren dann alleine und mit kleiner Ehrenrunde durch die Heimatstadt auf den Punkt genau voll.

Nach 400,6km bei einem Durchschnitt von 26,7km/h mit einer Fahrtzeit von 15 Stunden waren knappe 11.000 Kalorien verbrannt. Wieder zugeführt wurden während der gesamten 21 Stunden über 7 Liter Getränke, 1.400g Kohlenhydrate, 500mg Koffein und insgesamt ca. 7.500 Kalorien.

Die 400 Kilometer an einem Tag waren damit geschafft. Ein Gefühl, das nicht so leicht einzuordnen war. Bei der Ankunft zu Hause um 02:00 Uhr morgens überwog wohl eher die Erleichterung endlich fertig zu sein. Körper und Geist waren gut bedient. Abseits von bloßen Kilometerzahlen war es ein packender Tag mit zahlreichen guten Erinnerungen. So klischeehaft es klingen mag, aber der Weg ist neben dem Ziel nun mal auch von Bedeutung.

Abschließend war es die gesuchte und erhoffte Grenzerfahrung. Rückschläge wie Defekte am Rad oder schmerzende Körperstellen streuten zeitweise leise Zweifel am Erfolg des Vorhabens. Doch diesen Zweifeln entschieden zu begegnen und sich nicht vom Ziel abbringen zu lassen gibt am Ende den Ausschlag. Es heißt eben „Strampeln, strampeln, strampeln“. Dass bei solchen Abenteuern unvorhergesehene Schwierigkeiten auftreten, kannte ich schon vorher. Trotzdem ist es aber immer wieder aufs Neue spannend sich darauf einzulassen und diesen Hindernissen dann zu begegnen.

Die Suche nach den eigenen Grenzen hat mich zum Versuch der 300km an einem Tag gebracht. Da lag sie noch nicht. Bei 400 an einem Tag auch nicht. Die Suche geht also weiter. Wann und wie wird sich zeigen.

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Bordeaux, Nouvelle-Aquitaine